Das Institut für Kernphysik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (IKPh) wurde im Jahre 1957 gegründet. Diese Gründung stand im Zeichen des umfangreichen Aufbaus der Kernforschung in Deutschland im Hinblick auf die zivile Nutzung der Kernenergie.
Für die Universität Mainz wurde zunächst beschlossen, einen Reaktor für kernchemische Forschungen für Fritz Strassmann, den Mitentdecker der Kernspaltung, anzuschaffen. Um die Kernforschung darüber hinaus auf eine breite Basis zu stellen, wurde das Institut für Kernphysik gegründet, dessen Forschungseinrichtungen allerdings wegen der langwierigen Genehmigungswege für den Bau des Forschungsreaktors für die Kernchemie noch vor diesem in Betrieb gingen.
Inhaltsverzeichnis
- Direktoren des Instituts für Kernphysik
- Die Ära des Linearbeschleunigers – Einarmexperimente zur Untersuchung der Kernstruktur
- Der Übergang vom Linearbeschleuniger zum Mainzer Mikrotron MAMI – der Schritt zu Koinzidenzexperimenten
- Der MAMI-Beschleuniger – Koinzidenzexperimente im Bereich von 1 GeV
- Auslaufen des alten und Beginn eines neuen Sonderforschungsbereichs und weiterer Ausbau von MAMI
Direktoren des Instituts für Kernphysik
Zum ersten Direktor des Instituts für Kernphysik wurde Herwig Schopper auf ein Extraordinariat berufen, er folgte aber schon 1961 einem Ruf nach Karlsruhe (später wurde er Generaldirektor des CERN in Genf). So ist der eigentliche Gründer des Instituts sein Nachfolger Hans Ehrenberg, der 1961 als Schüler des späteren Nobelpreisträgers Wolfgang Paul aus Bonn zum Direktor des Instituts für Kernphysik berufen wurde. Ehrenberg sorgte für die Ausstattung des Instituts mit einem 300-MeV-Elektronenlinearbeschleuniger. Er führte mit Unterstützung seiner Mitarbeiter das Amt des Direktors durch alle "achtundsechziger Wirren" hindurch, bis er es 1987, drei Jahre vor seiner Emeritierung, an seinen Nachfolger Thomas Walcher, der zur Wahrung der Kontinuität schon vorzeitig berufen worden war, übergab.
Seitdem wird der Geschäftsführende Direktor des Instituts für Kernphysik im dreijährlichen Turnus aus dem Kreise der Professoren am Institut gewählt.
Während in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts sonst in Deutschland die kernphysikalische Landschaft auf das Normalmaß einer physikalischen Disziplin zurückgestutzt wurde, steht das Institut für Kernphysik der Mainzer Universität heute im Zenit seiner Leistungsfähigkeit. Dies ist insbesondere der Entwicklung und dem Bau des Mainzer Mikrotrons MAMI zu verdanken. Dieses „Rennbahn Mikrotron“, auf englisch "Race Track Microtron", liefert Elektronen hoher Energien mit einem effektiven Gleichstrom-Strahl. Das Prinzip wurde von Helmut Herminghaus, motiviert durch eine Vision des damaligen Assistenten Berthold Schoch, in den 80er Jahren zum ersten Male realisiert.
Die letzte, von Karl-Heinz Kaiser nach einem neuen Konzept gebaute Ausbaustufe ging Ende 2006 in Betrieb.
Die Ära des Linearbeschleunigers – Einarmexperimente zur Untersuchung der Kernstruktur
Kernphysikalische Grundlagenforschung funktioniert in Vielem analog zum normalen Mikroskopieren. Allerdings sind die Gegenstände des Interesses - die Atomkerne und ihre Bestandteile - um etwa sieben Größenordnungen kleiner als beispielsweise in der Mikrobiologie, und man benötigt eine Lichtquelle mit einer entsprechend kleineren Wellenlänge und Spektrometer, die mit einer solchen Wellenlänge funktionieren. Als "Lichtquelle" dienen dabei Maschinen, in denen elektrisch geladene Teilchen auf hohe Energien beschleunigt werden, sogenannte Teilchenbeschleuniger. Nach der de-Broglie-Beziehung ist die Wellenlänge der einem Teilchen zugeordneten Welle umgekehrt proportional zu seinem Impuls, bei hinreichend hohen Impulsen können also Wellenlängen mit den erforderlichen kurzen Wellenlängen verfügbar gemacht werden.
Hans Ehrenberg hatte seine Postdoktoranden-Zeit bei dem amerikanischen Nobelpreisträger Robert Hofstadter in Stanford, Kalifornien, verbracht. An die Verbindung zu Kalifornien und Hofstadter erinnert ein Mammutbaum auf dem Grundstück des Instituts für Kernphsik, den Hofstadter 1983, als er im Zusammenhang mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde an ihn für einige Monate als Gast im Institut war, als Geschenk aus Kalifornien mitbrachte. Von Stanford brachte Ehrenberg die Erfahrung der Signifikanz von Experimenten mit einem Elektronen-Linearbeschleuniger mit. Bei einem solchen Beschleuniger werden Elektronen geradlinig in langen Röhren, die sie gemeinsam mit einem elektrischen Feld durchlaufen, beschleunigt. Ehrenberg setzte die Anschaffung einer derartigen Maschine für die Universität Mainz durch. Die Endenergie sollte dabei deutlich über der Schwelle, die zur Erzeugung von Pionen1 erforderlich ist, liegen; sie lag schließlich bei 400 MeV2.
Ein großer Vorteil der Institutsgründung war, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes "auf der grünen Wiese" stattfand. Dafür stand das Gelände westlich des Max-Planck-Instituts für Chemie zur Verfügung, dessen Nähe und kernphysikalische Ausrichtung dem ganzen Projekt auch dadurch zugute kam, dass sich die Max-
Planck-Gesellschaft zur Hälfte an den Betriebskosten und an der experimentellen Nutzung beteiligte. So konnte Ehrenberg sein Konzept unter rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten verfolgen, ohne engen räumlichen Beschränkungen unterworfen zu sein (die räumlichen Gegebenheiten waren sogar so günstig, dass sie 20 Jahre später für den weiteren apparativen Ausbau mit dem MAMI-Projekt reichten).
Als Ergebnis seiner Überlegungen wurde ein Linearbeschleuniger der französischen Firma Compagnie Générale de Télégraphie sans Fil (kurz CSF) angeschafft. Die Gute-Hoffnungs-Hütte (GHH) baute nach Ehrenbergs Plänen die zehn Meter unter der Erde liegenden Hallen mit einer Gesamtfläche von 4000 m2 für den Beschleuniger und die erforderlichen Experimentiereinrichtungen. Zur Einweihungsfeier mit dem damaligen Bundesforschungsminister Stoltenberg wurde von Griesbach ein sechsstimmiges „Kernstück über c.es.f – g.h.h“ komponiert und zur Aufführung gebracht.
Das Ganze war kein ganz kleines Unternehmen, sollten doch die Wände der einzelnen Hallen aus Abschirmungsgründen aus mehr als 2 Meter dickem Schwerbeton bestehen. Die Anlieferungen der Bauteile für den Beschleuniger erfolgten ab 1964. Die Lastkraftwagen wurden von den Studenten des Instituts entladen, die auch unter der Anleitung eines kleinen französischen Teams den Großteil der Arbeit beim Zusammenbau leisteten - für einen Stundenlohn von zwei Mark fünfzig.
Der Linearbeschleuniger lieferte 1967 einen ersten Elektronenstrahl mit einem Durchmesser von 0.5 cm auf dem Strahlfänger. Damit konnten die kernphysikalischen Forschungsarbeiten beginnen.
Das Institut war inzwischen in das neu erstellte Institutsgebäude eingezogen, wo die personelleWeiterentwicklung rasch vonstatten ging. Der Bereich der theoretischen Kernphysik erhielt nach dem Wechsel von Peter Beckmann in das Institut für Physik und nach der Umwidmung einer experimentellen Stelle ein starkes Fundament durch die Berufung von Dieter Drechsel 1971 und weitere Verstärkung 197? durch Hartmuth Arenhövel. Zuvor war 1963 der Hartmuth Arenhövel experimentelle Bereich durch die Berufung von Gerhard Fricke erweitert worden, dessen Arbeitsschwerpunkt auf der Bestimmung der Kernradien am Linearbeschleuniger und an den Pionenfabriken des damaligen SIN (Schweiz) und in Los Alamos (USA) lag.
Von essentieller Bedeutung war auch der Ausbau der Werkstätten, ohne die und ohne deren besondere Qualität der weitere Ausbau der Anlagen (im wesentlichen in Eigenbau) nicht hätte erfolgen können. In der Tat liegt hier auch eine der Wurzeln für den späteren Erfolg mit dem Eigenbau des Mainzer Mikrotrons MAMI.
Der Schwerpunkt der experimentellen Arbeiten des Instituts lag bei Kernstruktur-Untersuchungen durch die Streuung der hochenergetischen Elektronen an Atomkernen, wobei der Kern sowohl in seinem Grundzustand als auch bei Anregung durch die Elektronenstöße untersucht wurde. Als ein typisches Ergebnis zeigt die Abbildung 1 die Verteilung der Ladung in den Atomkernen, die von den Protonen getragen wird, von ganz leichten Kernen (Helium) bis zu den schweren (Blei). Die Materiedichte im Kerninneren ist im wesentlichen für alle Kerne gleich, während die Ladungsdichte von den leichten zu den schweren Kernen hin abnimmt, da in den schweren Kernen die Zahl der als "Kitt" beigemischten Neutronen im Verhältnis zur Protonenzahl zunimmt. Die konstante Materiedichte bedeutet, dass das Volumen der Atomkerne proportional zur Zahl der Kernbausteine A zunimmt, der Radius also proportional zur dritten Wurzel aus A. Aus feinen Abweichungen von dieser Regel konnte auf die Komprimierbarkeit der "Kernmaterie" geschlossen werden. - Zum Rande hin fällt die Ladungsverteilung über eine für alle Kerne etwa gleiche Distanz von 2.5 fm von 90 auf 10 % ab3. Diese Distanz ist im wesentlichen durch die kurze Reichweite der Kernkräfte bestimmt; sie ist wegen der etwas stärkeren mittleren Bindung in den sogenannten "magischen Kernen"4 etwas geringer. Bei den schwereren Kernen sieht man, dass die Ladungsverteilung im Innern nicht einfach konstant ist, sondern dass sie entsprechend dem Schalenmodell des Atomkerns wellig - mit etwa gleicher Wellenlänge für alle Kerne - verläuft. Da das Schalenmodell aber die
Amplitude dieser Wellen nicht ganz richtig beschreibt und da andererseits die Überhöhungen gerade den mittleren Abständen zu den nächsten bzw. übernächsten Nachbarn im Kern bei dichter Kugelpackung entsprechen würde, ist nicht ganz klar, ob diese Welligkeit mehr das Schalenmodell oder eine komplementäre Sicht von korreliert angeordneten Nukleonen unterstützt.
In der Arbeitsgruppe von Bernhard Ziegler vom MPI für Chemie wurde nicht mit den hochenergetischen Elektronen selbst gearbeitet, vielmehr wurde deren Energie in Gamma-Strahlen5 umgewandelt, deren Absorption durch Atomkerne dann untersucht wurde. Mit diesen Experimenten konnte die Gruppe nachweisen, dass es im Kern außer den Protonen noch weitere Ladungsträger gibt, nämlich die oben erwähnten Pionen. Die Absorptionsmessungen lieferten einen klaren Beleg dafür, dass die Pionen im Kern nicht nur ein theoretisches Konzept für die Beschreibung der starken Wechselwirkung darstellen, sondern dass sie ganz konkret existieren.
Durch die Messung der Energie der an Kernen gestreuten Elektronen wird der Energieverlust, den sie bei der Streuung erleiden, nachgewiesen. Die Frage, was mit dieser Energie geschieht, kann in einem solchen "Einarmexperiment" nur modellmäßig beantwortet werden. So weist zum Beispiel die große Häufigkeit eines Energieverlustes bei einer Energie, die gerade der kinetischen Energie eines einzelnen Nukleons bei dem entsprechenden Impulsübertrag entspricht, darauf hin, dass bei diesen Ereignissen jeweils ein Baustein aus dem Kern herausgeschlagen wurde. Entsprechend wird bei einem Energieverlust im Bereich der Masse von Pionen darauf geschlossen, dass im Stoss Pionen am Kern erzeugt bzw. an diesem freigesetzt wurden.
1 Pionen sind mittelschwere Teilchen aus der Gruppe der Mesonen. Der Austausch dieser Teilchen vermittelt unter anderem die starke Wechselwirkung zwischen den Kernbausteinen, den Protonen und Neutronen (gemeinsam: Nukleonen).
2 1 eV ist die Energie, die ein Teilchen mit der Elementarladung e beim Durchfallen einer Spannungsdifferenz von 1 V aufnimmt; zum Erreichen von 400 MeV müssen also 400 Millionen Volt durchfallen werden, was nicht mehr in statischen elektrischen Feldern möglich ist, sondern nur in einem dynamischen Verfahren durch Übertrag der Energie von einer elektromagnetischen Welle auf die mitlaufenden Teilchen („Wellenreiterprinzip“).
3 Die Einheit fm (lies „Fermi“ oder „Femtometer“) ist mit 10-15 m die der Kernphysik angepasste Längeneinheit. Der Radius des Protons beträgt gerade knapp 1 fm.
4 Bei bestimmten Zahlen der Kernbausteine (2, 8, 16 usw.) erweisen sich die Kerne als besonders stabil; diese Zahlen nennt man die „magischen Zahlen“. Den „magischen Kernen“ entsprechen auf der Ebene der Elemente die chemisch besonders stabilen Edelgase. Sie werden wie für diese durch das „Schalen-Modell“ des Atom-Kernes erklärt.
5 Gamma-Strahlen sind sehr hochenergetische elektromagnetische Strahlen wie die niederenergetischeren Röntgenstrahlen. Sie entstehen, wie die Röntgenstrahlen, durch Beschuss einer Materiefolie mit Elektronen entsprechender Energie, die in einer Art Bremsprozess ihre Energie (oder einen Teil davon) an Gamma-Strahlen abgeben.
Der Übergang vom Linearbeschleuniger zum Mainzer Mikrotron MAMI – der Schritt zu Koinzidenzexperimenten
Um den Wahrheitsgehalt solcher Modellvorstellungen über den Ablauf der Reaktionen bei den Stößen zu überprüfen, ist es erforderlich, die im Stoß herausgeschlagenen bzw. erzeugten Teilchen gleichzeitig, d. h. "in Koinzidenz" mit dem gestreuten Elektron nachzuweisen. Derartige Koinzidenz-Experimente waren aber mit dem alten Linearbeschleuniger wegen der besonderen Zeitstruktur seines Elektronenstrahls nur sehr beschränkt möglich: Er entsprach nämlich nicht einer normalen Lichtquelle, sondern einer Blitzlicht-Lampe, die nur für den 3000-ten Teil der Zeit tatsächlich „an“ ist, was dazu führt, dass in der Zeit des kurzen und sehr intensiven "Blitzes" sehr, sehr viele Ereignisse mit sehr vielen auslaufenden Teilchen stattfinden, so dass eine Zuordnung der herausgeschlagenen Teilchen zu dem verursachenden, gestreuten Elektron nur bei sehr stark reduzierter Intensität möglich war. Immerhin gelang der Arbeitsgruppe um Berthold Schoch schon mit dem Linearbeschleuniger der Nachweis der herausgeschlagenen Neutronen.
Um Koinzidenz-Experimente in größerem Maßstab durchzuführen, brauchte man einen Beschleuniger, bei dem der Strahlstrom bei Beibehaltung der hohen mittleren Strahlstärke gleichmäßig über die Zeit verteilt ist, das heißt der erwähnte Gleichstrom. Wegen der großen Bedeutung derartiger "Koinzidenz-Experimente" fand ein weltweiter Wettlauf um den Bau solcher Maschinen statt. Das Problem besteht dabei in Folgendem: Mit dem Aufbau des elektrischen Feldes in der Beschleunigungsröhre sind notwendigerweise elektrische Ströme in den Wänden verbunden. Diese führen bei endlichem elektrischen Widerstand in den Wänden der Röhre zu Energieverlusten, die die Röhren bei hohen Feldstärken und entsprechend hohen Verlustleistungen leicht zum Schmelzen bringen können. Um dies zu vermeiden kann das Feld im klassischen Linearbeschleuniger jeweils nur für sehr kurze Zeit aufgebaut werden, dann muss bis zum nächsten „Lichtblitz“ eine längere Pause zur Abkühlung eingelegt werden.
Andernorts konzentrierten sich die entsprechenden Projekte auf die Nutzung von supraleitenden und daher verlustfreien Materialien für die Beschleunigerröhren, und diese Bemühungen führten schließlich auch zum Bau entsprechender Maschinen, was mit sehr hohem Aufwand für die Kühlung der großen Anlagen auf -270°C verbunden ist. In Mainz wurden ab 1972 von Helmut Herminghaus zunächst Vorüberlegungen zu einem dem Linearbeschleuniger nachgeschalteten „Stretcher-Ring“, wie er z. B. an der Universität Bonn und am NIKHEF in Amsterdam realisiert wurde, angestellt, dann aber verfolgte er ein Konzept, das sich ebenso wie ein solcher Stretcher-Ring bei normaler Raumtemperatur realisieren lässt und das sich als außerordentlich tragfähig erwies, das Rennbahn-Mikroton-Prinzip.
Der Witz dieses Konzepts besteht in Folgendem: Auf einer Beschleunigungsstrecke wird zunächst relativ wenig Energie gewonnen, diese Strecke wird dann aber mehrfach, sagen wir N-mal durchlaufen. Dann braucht man zur Erzielung der gewünschten Endenergie nur einen N-mal kleineren Energiegewinn beim Durchlaufen
der Beschleunigerstrecke, also ein um eben diesen Faktor kleineres elektrisches Feld. Da der Energieverlust in den Wänden der Beschleunigungsröhre proportional zum Quadrat der Feldstärke ist, wird z. B. bei 100-maligem Durchlaufen der Röhre der Energieverlust um einen Faktor 10000 reduziert. Die in normalleitenden Röhren dann noch auftretende Verlustleistung kann gut weggekühlt werden.
Das genügend häufige Durchlaufen der Röhre geschieht durch Zurückführen des Elektronenstrahls durch Ablenkung in magnetischen Feldern vor und hinter der Beschleunigungsröhre. Das Problem bestand darin, genügend große und präzise Magnete zu bauen, um diese Rückführung genügend genau in den Griff zu bekommen - kleinste Ungenauigkeiten würden bei dem häufigen Durchlaufen zu unkontrollierbarem Aufschaukeln der Abweichungen von der gewünschten Bahn führen. In der Tat waren selbst Experten, insbesondere auch Wolfgang Paul, außerordentlich skeptisch in Bezug auf die Realisierbarkeit eines solchen Konzeptes. Gleichwohl lag 1975 ein konkreter Vorschlag für den Bau einer solchen Maschine vor.
Die Skepsis der Experten erzwang es, die Realisierbarkeit des Mikrotron-Prinzips in mehreren Stufen zu zeigen. Die erste war noch sehr klein – sozusagen das Modell Spur H0 einer Eisenbahn - und erreichte nur eine Energie von 14 MeV. Diese Maschine konnte auf der Basis der exzellenten Werkstattausstattung des Instituts weitgehend „mit Bordmitteln" realisiert werden, wobei "Abfallprodukte" anderer Institutionen halfen. So fielen an Kosten für die "Community" im wesentlichen nur die für die Anschaffung eines van-de-Graaff Vorbeschleunigers an. Das Risiko dafür erschien, bei aller Skepsis, tragbar. 1979 ging die 14-MeV-Stufe in Betrieb, und zur allgemeinen Überraschung funktionierte sie auf Anhieb! Das Konzept hatte sich als tragfähig erwiesen.
In dasselbe Jahr fiel die Ausrichtung einer internationalen IUPAP-Konferenz über „Nuclear Physics with Electromagnetic Interactions“, die dem Institut zu einer beträchtlichen Steigerung der internationalen Sichtbarkeit verhalf.
Mit diesem Erfolg gab es dann "grünes Licht" für den weiteren Ausbau um eine Stufe für 100 -150 MeV, während die Entscheidung für die dritte geplante Stufe für 855 MeV noch blockiert war, was angesichts des erheblich größeren Mittelbedarfs für diese Stufe nicht überraschen konnte. Denn es mussten doch für den Beschleuniger und die neu zu erstellenden Messapparaturen neben den Aufwendungen für die Apparate selbst auch neue Hallen gebaut werden! Gleichwohl war die Endenergie in der Nähe von 1000 MeV = 1 GeV von Anfang an das Ziel - führt sie doch genau in den Energiebereich, mit dem man Objekte von der Größe der Kernbausteine oder auch der Pionen abtastet. Sie eignet sich damit genau zur Untersuchung des sogenannten „Confinements“, d. h. der Frage, was es damit auf sich hat, dass sich die Konstituenten, aus denen diese Teilchen aufgebaut sind, die sogenannten Quarks, nicht aus ihnen herausschlagen lassen. Dies ist ein außerordentlich interessantes Phänomen. Ist es doch auf allen darüber liegenden Skalen so, dass sich der Aufbau der Objekte bis herab zum Atomkern aus Konstituenten dadurch untersuchen lässt, dass man eben diese Konstituenten aus ihnen herausschlägt und nachweist. Dies funktioniert mit den Quarks nicht mehr, sie lassen sich aus den 2-Quark-Objekten (Mesonen) und den 3-Quark-Objekten (Baryonen) nicht einzeln herausschlagen. Ihre Bindung in den sogenannten Hadronen6 ist so stark, dass in der Tat die Masse dieser Teilchen ganz überwiegend nicht aus der Masse ihrer Konstituenten, sondern aus der Bindungsenergie besteht, so dass hier das Bild von Teilchen, die in einem Potential gebunden sind, das die Objekte bis herab zum Atomkern noch gut beschreibt, nicht mehr anwendbar ist. Es stellt sich hier die zentrale Frage, was eigentlich Teilchen sind. Dieser ganze Fragenkomplex, der unter dem Begriff „Confinement“ zusammengefasst wird, ist derzeit noch nicht verstanden.
Sofort nach Fertigstellung der 14-MeV-Stufe konzentrierte das Institut seine Ressourcen ganz wesentlich auf den Aufbau der zweiten Stufe, die Anfang 1983 mit einer Endenergie von 180 MeV in Betrieb ging. Die Aktivitäten am Linearbeschleuniger wurden parallel zur Aufnahme der Experimente an MAMI stark zurückgefahren; 1989 wurden sie ganz eingestellt und der Beschleuniger abgewrackt (einige Sektionen fanden weitere Verwendung an Beschleunigeranlagen in Dortmund und Bonn) .
Zur Nutzung der Maschine mit einem Forschungsprogramm im internationalen Wettbewerb sowie für den Weiterbau mit der dritten Stufe beantragte das Institut die Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs (SFB). Zum 1. Januar 1982 wurde der SFB 201 "Mittelenergie mit elektromagnetischer Wechselwirkung" für den weiteren Aufbau der 180-MeV-Stufe und für die ersten Experimente daran angesichts der noch offenen Fragen zunächst vorläufig für zwei Jahre eingerichtet. Daran beteiligt waren auch Gruppen vom Institut für Physik in Mainz und von den Max-Planck-Instituten in Mainz und in Heidelberg sowie von den Universitäten Gießen, Glasgow und Edinburgh. Die treibende Kraft hinter der Beantragung des SFB und dann sein erster Sprecher war Dieter Drechsel. Die Basis für den Weg in diese Förderung lag neben dem erfolgversprechenden Konzept des Mikrotrons in den Forschungsergebnissen der Arbeitsgruppen von Jörg Friedrich, Reiner Neuhausen und Berthold Schoch sowie der wissenschaftlichen Reputation der Theoriegruppen.
Zum 1. Januar 1984 wurde der SFB endgültig eingerichtet. Die Förderung in der ersten Periode erstreckte sich auf Experimente an der intermediären 180-MeV-Stufe, auf Arbeiten zur theoretischen Mittelenergiephysik, auf den Ausbau der Rechnerkapazitäten und vor allem auf personelle Verstärkung zum Bau der dritten Stufe.
Im Frühjahr 1985 wurden die Baumaßnahmen für die inzwischen genehmigten Hallen für den Gesamtaufbau von MAMI und für die Strahlführung vergeben, während die Finanzierung der Experimente und einer neuen Experimentierhalle noch nicht definitiv geklärt war. 1986 begann der Aufbau von MAMI in den neuen Hallen. Im
September 1987 wurde das Messprogramm mit der 180-MeV-Stufe von MAMI eingestellt, da sie als Injektor für die dritte Stufe in die neuen Hallen
verbracht werden musste. 1989 liefen die Messungen am Linearbeschleuniger aus: Das Institut konzentrierte seine Kapazitäten voll auf den Aufbau von MAMI und der dafür erforderlichen neuen Experimentiereinrichtungen.
Am 29. Januar 1991 wurde die Inbetriebnahme mit einem Festakt gefeiert.
Der MAMI-Beschleuniger – Koinzidenzexperimente im Bereich von 1 GeV
Der Schritt vom Linearbeschleuniger zum Mainzer Mikrotron und damit von der Einarm- zur Koinzidenz-Physik fiel zusammen mit einem Generationenwechsel im Institut. Auf Hans Ehrenberg folgte 1985 Thomas Walcher, auf Gerhard Fricke 1990 Dietrich von Harrach. Die Leitung der Beschleunigergruppe übernahm 1992 Karl-Heinz Kaiser nach dem Ausscheiden von Helmut Herminghaus. Auf dessen für anwendungsnahe Forschung umgewidmete Professur wurde Hartmut Backe berufen. Das Forschungsprogramm im Institut konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Nutzung des neuen Beschleunigers MAMI. Daneben gab es zum wechselseitigen Nutzen einige Aktivitäten am europäischen Forschungszentrum CERN in Genf, auf die hier nicht näher eingegangen wird.
Die weltweit einzigartigen Forschungsmöglichkeiten im Energiebereich bis knapp unter 1 GeV haben von Anfang an Forscher aus aller Welt angezogen. Zur Bearbeitung experimenteller Themen auf diesem Gebiet bedarf es größerer Arbeitsgruppen von jeweils etwa 20 Physikern, die aus allen einschlägigen Institutionen in der Welt nach Mainz kamen. Aufbau, Nutzung und Pflege der erforderlichen experimentellen Apparaturen wurden in mehreren Kollaborationen organisiert.
Für die Kollaboration A1 leitete Reiner Neuhausen den Bau dreier großer magnetischer Spektrometer in der neuen 600 m2 großen Experimentierhalle. 1989 war der Bau dieser Halle nach einem längeren Diskussionsprozess endgültig bewilligt worden. Zuvor war eine „Aufstockung“ der vorhandenen zentralen Strahlverteilungshalle diskutiert, aber als unrealistisch verworfen worden. Die physikalischen Ziele konnten in dieser Diskussion so überzeugend vermittelt werden, dass am Ende ein um den Faktor 10 größeres Finanzvolumen zur Verfügung stand, als ursprünglich angedacht und zugesagt worden war.
Mit drei magnetischen Spektrometern können drei geladene Teilchen aus einer Reaktion koinzident sehr genau nachgewiesen werden (z. B. neben dem
gestreuten Elektron ein freigesetztes Proton und ein im Kernfeld erzeugtes bzw. freigesetztes Pion). Auch diese Einrichtung ist derzeit einmalig in der Welt. Sie
wurde im Lauf der Jahre immer weiter verfeinert und ergänzt, unter anderem durch weitere Detektoren, mit denen z. B. auch neutrale Teilchen wie die Neutronen
nachgewiesen werden können.
Mit dieser Anlage wurde neben vielen anderen wichtigen Beiträgen z. B. das Neutron vermessen, das zwar, wie sein Name sagt, die Gesamtladung Null aber durchaus eine innere Ladungsverteilung hat. Als weiteres wichtiges Ergebnis sei die erstmalige Messung der Verformung ("Polarisation") des Protons im elektromagnetischen Streufeld des Elektrons erwähnt sowie eine ganze Reihe von Beiträgen zur Physik der Pionen und damit zum Test der derzeitigen Theorie für die Beschreibung dieser Teilchen, der sogenannten "Chiralen Störungstheorie".
Die Kollaboration A2 setzt in gewisser Weise die Tradition der MPI-Arbeitsgruppe fort, indem sie mit Gamma-Strahlen arbeitet. Ein wesentlicher Vorteil gegenüber dem Linearbeschleuniger besteht darin, dass hier die Koinzidenztechnik in ganz besonderer Weise zum Tragen kommt, nämlich dadurch, dass zu dem Gamma, das eine gemessene Reaktion auslöst, auch das Elektron, das das Gamma emittiert hat, mit seiner Energie nachgewiesen wird, so dass die Energie des Gamma bekannt ist, was bei der „normalen“ Erzeugung nicht der Fall ist, da immer ein ganzes Energiespektrum von Gammas abgestrahlt wird. Für die Technik der „Energie-Markierung“ (engl. „Tagging“) bedarf es eines Spektrometers für den Nachweis der emittierenden Elektronen. Beispielhaft für das wesentliche Engagement auswärtiger Arbeitsgruppen, das hier nicht vollständig aufgelistet werden kann, sei erwähnt, dass dieses Tagging-Spektrometer von einer Arbeitsgruppe der Universität Glasgow, die sich bis heute um das Betreiben und um den weiteren Ausbau kümmert, eingebracht wurde. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist das Einbringen des DAPHNE-Detektors vom französischen Nationallabor in Saclay, mit dem z. B. unter der Leitung von Hans-Jürgen Arends die integrale spinabhängige Produktion von Pionen am Proton, die sogenannte GDH-Summenregel, vermessen wurde.
Ein herausragendes Ergebnis ist die Vermessung einer Art Deformation des Protons, wobei man allerdings nicht sagen kann, ob diese im Grundzustand schon vorliegt oder erst im angeregten Zustand erzeugt wird. Von besonderer Bedeutung ist die Polarisierbarkeit des Pions im Felde eines an ihm gestreuten Gamma. Der hier gemessene Wert ist gut doppelt so groß wie der von der derzeitig herrschenden Theorie der starken Wechselwirkung vorhergesagte. Da die Theorie sich bezüglich dieser Größe sehr sicher ist, stellt der abweichende Wert sie vor ein großes Rätsel.
Auch in dieser Kollaboration wurden die Experimentiereinrichtungen ständig verfeinert und ergänzt, zuletzt durch den Crystal-Ball Detektor, der am amerikanischen Nationallabor SLAC in Stanford, CA, gebaut und über DESY und das BNL an MAMI eingebracht wurde. Dieser Detektor deckt für die aus der Reaktion auslaufenden Teilchen praktisch den vollen Raumwinkelbereich ab, was zu einer Effizienz führt, die gegenüber den früher benutzten Detektoren um bis zu einem Faktor 100 größer ist.
Der Beschleuniger wurde sehr bald nach dem Betriebsbeginn durch die Kollaboration B2 dahingehend weiter entwickelt, dass er einen Strahl polarisierter7 Elektronen erzeugen konnte.
Die inzwischen aufgelöste Kollaboration A3 war die erste, die mit polarisierten Elektronen und mit einem polarisiertem 3He-Target, bzw. einem unpolarisierten Deuterium-Target die Ladungsverteilung des Neutrons vermaß. Hier sei angemerkt, dass die Herstellung von polarisiertem 3He im Institut für Physik der Mainzer Universtät inzwischen Bedeutung in der Medizin als Material für Kernspin-Untersuchungen der Lunge gewonnen hat.
In der Kollaboration A4 wird mit Hilfe der polarisierten Elektronen der winzige Beitrag, den die „schwache Wechselwirkung“ zwischen Elektron und Proton zum
Streuprozess leistet, nachgewiesen. Wegen der sehr geringen Stärke dieser Wechselwirkung war es erforderlich, die experimentellen Möglichkeiten auf allen Gebieten bis aufs Äußerste auszureizen.
Die entsprechenden Bemühungen waren in der Tat erfolgreich, so dass der Nachweis des Beitrags der schwachen Wechselwirkung gelungen ist, womit ein Beitrag zur weiteren Enträtselung des inneren Aufbaus des Protons geleistet wurde. Der Physiker stellt sich das Proton als aus drei Quarks aufgebaut vor, zwei up-Quarks, und einem down-Quark, die von den Gluonen als Klebstoff zusammengehalten werden. Daneben entstehen und vergehen aber auch ständig Paare von Quarks, darunter nicht nur ups und downs, sondern auch die schwereren Quarks, in erster Linie die mittelschweren strange-Quarks. Gerade auf deren Beitrag sind die Messungen der A4-Kollaboration empfindlich. Nur wenige Modelle, die den Beitrag der strange-Quarks zur Nukelonen-Struktur beschreiben – und das sind nicht einmal
die fundamentalen -, geben diese Ergebnisse richtig wieder. Dies ist ein weiterer Hinweis, dass wir von einem schlüssigen Verständnis der stareken Wechselwirkung, so zu sagen einer „Standardtheorie der starken Wechselwirkung“, noch ein ganzes Stück entfernt sind.
Für den Bau und die Konsolidierung des Beschleunigers wurde die Kollaboration B1 gebildet, die sich nach der Fertigstellung des dreistufigen Ausbaus des MAMI-Beschleunigers und nach dem Ausscheiden von Helmut Herminghaus unter der Leitung von Karl-Heinz Kaiser auch mit den Möglichkeiten einer weiteren Energieerhöhung beschäftigte.
Für den wissenschaftlichen Erfolg des Mainzer Mikrotrons war und ist die enge Kooperation zwischen den Experimentatoren und den am Institut tätigen Theoretikern, die sich in der Kollaboration Th zusammengeschlossen haben, essentiell. Dieter Drechsel und Hartmuth Arenhövel haben mit den Themen ihrer Arbeitsgruppen stets Fragen im Bereich der Arbeiten an MAMI bearbeitet und damit auch wesentlich zur Formulierung des Forschungsprogramms und zur Interpretation der experimentellen Ergebnisse beigetragen. - 2005 bzw. 2008 haben mit Hartmut Wittig und Marc Vanderhaeghen zwei renommierte Forscher ihre Nachfolge angetreten, von denen eine ähnlich fruchtbare Zusammenarbeit mit den Experimentatoren an dieser einmaligen Forschungseinrichtung erwartet werden kann.
In einem mehr anwendungsnahen Forschungsprojekt wurde von Hartmut Backe mit der Kollaboration X1 die Erzeugung sehr spezieller Röntgenstrahlen untersucht. Dabei geht es um die Erzeugung von kohärenter und monoenergetischer Röntgenstrahlung höchster Qualität, mit der z. B. Aufnahmen im sogenannten Phasenkontrastverfahren gemacht werden können, ein Verfahren, das nicht auf die unterschiedliche Absorption von Röntgen-Strahlung in Materie sondern die unterschiedliche Ausbreitungsgeschwindigkeit empfindlich ist. Hierdurch kann weiche und harte Materie mit hoher Genauigkeit untersucht werden.
7 Man spricht von "polarisierten Teilchen", wenn die magnetischen Dipole (und der damit verbundene Drehimpuls, der sogenannte Spin), die Teilchen wie kleine Kompassnadeln mit sich tragen, ausgerichtet sind.
Auslaufen des alten und Beginn eines neuen Sonderforschungsbereichs und weiterer Ausbau von MAMI
Ab Mitte der 90er Jahre stand die Forschung an MAMI in voller Blüte. Am Horizont stand allerdings auf der einen Seite das Damoklesschwert, dass die Förderung durch den SFB zum 31. Dezember 1998 auslief. Auf der anderen entwickelten sich Überlegungen zum weiteren Ausbau von MAMI um eine vierte Stufe außerordentlich vielversprechend. Angesichts des bei weitem noch nicht ausgeschöpften Potentials des Beschleunigers wurden Vorüberlegungen für die Beantragung eines neuen Sonderforschungsbereichs mit einer neuen Zielrichtung angestellt. Gestützt auf die nachgewiesene Leistungsfähigkeit des MAMI-Projekts und vor dem Hintergrund der Genehmigung des Ausbaus von MAMI um eine vierte Stufe betrieb Thomas Walcher, der inzwischen Dieter Drechsel als Sprecher des SFB abgelöst hatte, diesen Neuantrag, der zum Erfolg und damit zur Einrichtung des SFB 443 „Vielkörperstruktur stark wechselwirkender Systeme“ führte. 2002 löste Dietrich von Harrach Thomas Walcher als Sprecher des SFB ab.
Die Überlegungen zum weiteren Ausbau von MAMI zielten darauf ab, die Strahlenergie so weit zu erhöhen, dass Messungen im Bereich der zweiten Resonanz der Nukleonen und zur Produktion von Teilchen mit strange-Quarks (K-Mesonen) möglich wurden, das heißt, sie musste 1.5 GeV erreichen und damit die bisherige Energie fast verdoppeln. Eine besondere Schwierigkeit stellte dabei die Randbedingung dar, dass diese Maschine in zwei schon vorhandene Experimentierhallen aus der Zeit des Linearbeschleunigers passen musste. In der Tat ist es Karl-Heinz Kaiser gelungen, eine Maschine nach einem modifizierten Mikrotron-Prinzip ("harmonisches doppelseitiges Mikrotron") zu entwerfen und mit seiner kleinen Mannschaft zu realisieren. Wie sehr dies ein Projekt am Rande des auch rein praktisch Möglichen war, zeigt die Abbildung vom Einbringen eines der Umlenkmagnete in die Hallen, was nun nicht mehr von den Werkstätten des Instituts bewerkstelligt werden konnte, sondern wofür eine Spezialfirma gefunden werden musste, die die 125-Tonnen schweren Teile in tagelanger Präzisionsarbeit computergesteuert um die Ecken
manövrierte.
Die vierte Stufe konnte zu Weihnachten 2006 in Betrieb genommen werden. Sie startete so reibungslos, dass bereits im Mai 2007 erste experimentelle Ergebnisse mit dem neuen Strahl in der renommierten Zeitschrift Physical Review Letters veröffentlicht werden konnten. Im Oktober 2007 wurde diese Stufe unter großer Anteilnahme der Community offiziell eingeweiht. Während bei der Einweihung des Linearbeschleunigers durch den
damaligen Bundesforschungsminister Stoltenberg der Einschaltknopf für den Minister (um sicherzugehen!) einfach das Bild der normalen 50-Hz-Wechselspannung aus dem Netz auf die Leinwand im Hörsaal warf, war sich die Beschleunigermannschaft nun so sicher, dass die rheinland-pfälzische Staatsministerin Ahnen mit
dem roten Knopf tatsächlich den Einschaltvorgang der MAMI-C-Stufe betätigen konnte.
Dazu, dass sie gebaut werden konnte, haben viele Faktoren beigetragen. An erster Stelle steht die Überzeugungskraft der erarbeiteten Ergebnisse der vergangenen Jahrzehnte und das vorgeschlagene Forschungsprogramm, die die Community überzeugt haben, dass auch die vierte Stufe eine lohnende Investition ist. Zur K-Mesonen-Physik baut Josef Pochodzalla das von der GSI übernommene KAOS-Spektrometer in die A1-Spektrometeranlage ein. Hans-Jürgen Arends vervollständigt die A1-Apparatur um ein polarisiertes Proton-Target, das vorher in Kollaboration mit den Universitäten Bonn und Bochum zeitlich nur eng begrenzt benutzt werden konnte. Auf theoretischer Seite leistet Stefan Scherer wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der Theorie der starken Wechselwirkung. Im Hintergrund steht die über vier Jahrzehnte im Institut geleistete Aufbauarbeit in Werkstätten und wissenschaftliche Kompetenz. Die Beschleunigermannschaft besteht bis auf eine Ausnahme aus Absolventen des Instituts, die hier in den sechziger und siebziger Jahren ihre wissenschaftliche Ausbildung erfahren haben; dasselbe gilt für die Leiter der Bereiche Beschleunigerwerkstatt, Elektronik, Experimentiertechnik und Datenverarbeitung.
Es ist gelungen, die Überzeugung von Wichtigkeit und Erfolgsaussichten auch auf Politiker und sonstige Entscheidungsträger zu übertragen, denen das Institut sehr zu Dank verpflichtet ist. Dieser Dank gilt zunächst der Universität, die es ermöglicht hat, eine derartig große und kostenaufwendige Forschungseinrichtung innerhalb ihrer Strukturen zu betreiben; es ist schon bemerkenswert, dass ein so heterogenes Gremium wie der Senat mit den vielen divergierenden Interessen dem Ausbau von MAMI um die Stufe C einmütig zustimmte.
Besonderer Dank gilt dem Land Rheinland-Pfalz; unabhängig von der politischen Couleur haben die Landesregierungen über mehr als vier Jahrzehnte hinweg die Forschungsarbeit des Instituts für Kernphysik tatkräftig unterstützt.
Großer Dank gilt schließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das MAMI-Projekt, als ihr größtes, in der bis vor Kurzem ungewöhnlichen Weise zweier aufeinander folgender Sonderforschungsbereiche gefördert hat.
Im Januar 2008 hat die letzte, dreijährige Förderperiode des laufenden SFBs begonnen. Das wissenschaftliche Potential von MAMI ist aber dann noch keineswegs erschöpft. Im Gegenteil, die am Institut entstandene Symbiose aus Präzisionsexperimenten und signifikanter Theorie ist im Gebiet der Hadronen-Physik einmalig und verspricht die wichtigsten Ergebnisse erst für die Zukunft. Daher muss in den kommenden Jahren eine Lösung für die zukünftige Förderung dieser in der Welt einmaligen Forschungseinrichtung gefunden werden.