B1 – Forschung

Die Beschleuniger-Gruppe am Institut für Kernphysik der Johannes-Gutenberg-Universität (B1-Kollaboration) wurde 1972 von Prof. Dr. H. Herminghaus ins Leben gerufen, um eine Beschleunigeranlage für sogenannte Koinzidenzexperimente zu entwickeln, da die damals üblichen gepulsten Beschleuniger keinen weiteren Erkenntnisgewinn in der Kernphysik mehr versprachen. Bei Koinzidenzexperimenten werden nukleare Reaktionen nicht mehr summarisch, sondern Ereignis für Ereignis untersucht. Das funktioniert aber nur zufrieden stellend mit einem kontinuierlichen Teilchenstrahl, gepulste Strahlen sind ungeeignet.

Herminghaus schlug in einer Veröffentlichung von 1976 den Bau eines Rennbahn-Mikrotrons (RTM1, für race track microtron 1) als Beginn einer Kaskade zur Beschleunigung von Elektronen vor, das 3 Jahre später erfolgreich in Betrieb genommen werden konnte. Auf diesen Erfahrungen aufbauend wurde unter seiner Leitung 1983 das RTM2 (auch: MAMI-A) in Betrieb genommen, das die Energie des RTM1 von 14MeV auf 180MeV anhob. Daran anschließend wurde im Jahr 1990 im Rahmen des damaligen Sonderforschungsbereichs 201 das RTM3 mit einer Endenergie von 855MeV in Betrieb genommen. Dieser Beschleuniger konnte erstmalig auf der Welt einen kontinuierlichen Elektronenstrahl in einem so hohen Energiebereich bei so exzellenter Qualität liefern (transversale Emittanzen bei 100μA horizontal: 8 π•nm•rad, vertikal: 0,5 π•nm•rad; Energiebreite: 13keV). Für diese, auch als MAMI-B bezeichnete Anlage, war das Institutsgebäude erheblich erweitert und zur Vorbeschleunigung ein Linearbeschleuniger konstruiert worden, der den bei MAMI-A verwendeten van-de-Graaf Generator (einen mechanischen Gleichspannungsgenerator) ersetzte, was die Strahlqualität erheblich verbesserte. Die Anlage wurde in dieser Form, nun unter der Leitung von Dr. K. H. Kaiser und seit 2005 von Dr. A. Jankowiak, bis zum Jahre 2006 erfolgreich für kernphysikalische Experimente betrieben.

Schon beim Bau war aber klar, dass mit dem RTM3 das Prinzip des Rennbahn-Mikrotrons ausgereizt war, eine weitere Stufe hätte gigantische Dimensionen angenommen. Bereits 1979 hatte daher Kaiser als Lösung ein völlig neuartiges Mikrotronprinzip, das Doppelseitige Mikrotron vorgeschlagen. Zusammen mit seinem Doktoranden S. Ratschow verfolgte er Ende der 1990er Jahre diese Idee weiter und schlug 1999 das Harmonische Doppelseitige Mikrotron (HDSM) als vierte MAMI-Stufe vor. Mit Hilfe des neu gegründeten Sonderforschungsbereichs 443 und der Unterstützung der Universität und des Landes Rheinland Pfalz konnte dieser Beschleuniger in den Jahren 2001 bis 2006 verwirklicht werden (MAMI-C). Er lieferte am 19. Dezember 2006 den ersten 1.5GeV Strahl und wird seit Februar 2007 im Routinebetrieb für Experimente betrieben.

Der Bau einer dermaßen komplexen Maschine ist in einem vernünftigen Zeit- und Kostenrahmen nur dann zu bewerkstelligen, wenn man die entscheidenden Komponenten vorher in Computersimulationen nachbildet. Der Beginn der Konstruktion eines Beschleunigers ist daher die Simulation des Strahlverhaltens mit Programmen wie „Transport“ oder den im Institut entwickelten Programmen „ptrace“ und „beamoptik“, die Simulation von Beschleunigungsstrukturen mit z.B. „Parmela“ oder „MAFIA“ und die Simulation von Magneten bzw. Magnetfeldern mit beispielsweise „Tosca“. Im nächsten Schritt ist dann die technische Umsetzung gefragt. Hier helfen beispielsweise Programme wie „Microwave Office“ für die Dimensionierung von Mikrowellenbauteilen, „contour“ zur Konstruktion von Spulen zur Magnetfeldkorrektur, „I-deas“ oder „ANSYS“ für strukturmechanische Berechnungen oder „AutoCad“ für mechanische Konstruktionszeichnungen. Die meisten dieser Programme – insbesondere diejenigen zur Simulation des Strahlverhaltens – werden auch im Betrieb des Beschleunigers weiter benutzt, um zum einen Fehler einzugrenzen, hier, indem man die Strahlparameter mit der Simulation vergleicht, zum anderen Verbesserungen und Erweiterungen vorauszuplanen oder deren Konsequenzen untersuchen zu können. Für die eigentliche Herstellung der Anlage sind außer einer motivierten Mannschaft gut ausgerüstete Werkstätten sowie spezielle Maschinen und Einrichtungen notwendig, denn viele für einen Beschleuniger erforderliche Komponenten lassen sich nicht von der Stange kaufen. Das Institut verfügt über eine Mechanik-, Elektronik- und Vakuumwerkstatt, ein Mikrowellenlabor, ein Hochspannungslabor und etliche Gerätschaften, wie beispielsweise einem Vakuumlötofen für die Herstellung von Beschleunigungsstrukturen.

Am Beschleuniger gibt es eine Reihe von Strahldiagnoseeinrichtungen, die keineswegs nur bei der Inbetriebnahme benötigt wurden, sondern auch im Betrieb erforderlich oder zumindest hilfreich sind. Viele davon wurden im Institut entwickelt, zumeist im Rahmen von Diplom- oder Doktorarbeiten, wie z.B. Hochfrequenz-Strahllage- und –Phasenmonitore, Synchrotronstrahlungsmonitore, Strahlprofilscanner, hochgenaue Strommesssonden (Fluxgate-Magnetometer), Systeme zur Emittanzmessung oder ein System zum Sichtbarmachen des longitudinalen Phasenraums am Ende des Injektionslinearbeschleunigers. Ein aus vernetzten Computern bestehendes Beschleuniger-Steuerungssystem dient nicht nur der Bedienung der Anlage, sondern sorgt auch für Auslese und Auswertung dieser strahldiagnostischen Instrumente. Die Diagnoseeinrichtungen werden auch teilweise wieder für eine direkte Verbesserung des Elektronenstrahls eingesetzt. So gibt es Strahllagestabilisierungen und eine Strahlstromstabilisierung. Im Rahmen einer Doktorarbeit wurde ein System zur Stabilisierung der Strahlenergie (bei 855MeV auf 1keV genau) entwickelt. Für spezielle Experimente wurde zudem ein strahloptisches System zur Erzeugung eines Mikrofokus gebaut (mit ca. 8μm Radius) und ein supraleitender Undulator entwickelt.

Die wechselnden Anforderungen, um neuen Experimenten der Kernphysik Rechnung zu tragen, zwingen uns, die Beschleunigeranlage ständig zu verbessern und zu erweitern. Grundvoraussetzung hierfür ist die Beherrschung der Anlage, nicht nur in technischer, sondern auch in beschleunigerphysikalischer Hinsicht. Daher gibt es eine Reihe von Projekten für strahloptische Untersuchungen und zum Aufbau hierfür nötiger diagnostischer Instrumentierung. Beispiele hierfür sind: Die Verbesserung der Synchrotronstrahlungsmonitore, um die Emittanz genauer zu vermessen, Untersuchungen der longitudinalen Strahldynamik für eine Stabilisierung der Energie auch bei 1.5GeV oder magnettechnische Untersuchungen im Hinblick auf eine Erhöhung der Ausschussenergie des HDSM.

Vorschläge zu neuartigen Experimenten in der Kernphysik werden es in Zukunft erforderlich machen, über andere Arten von Teilchenbeschleunigern nachzudenken, wie beispielsweise einem Rezirkulator mit supraleitenden Beschleunigungssektionen für hohe Teilchenströme. Dieser soll bei einer Energie von etwa 200MeV einen Elektronenstrahl von 10mA erzeugen können. Die daraus resultierende Strahlleistung von 2MW wäre nur äußerst unökonomisch aufrecht zu erhalten. Daher wird untersucht, ob nicht für kernphysikalische Experimente die Technik des „Energy-Recovery“ eingesetzt werden kann, bei der der Strahl nach der Wechselwirkung im Experiment in den Beschleunigersektionen um 180° phasenverschoben zum beschleunigten Strahl abgebremst wird und dabei einen Großteil (>99%) seiner Energie wieder abgibt, die dann direkt für die Beschleunigung der „neuen“ Teilchen verwendet werden kann. In einer weiteren Studie arbeiten wir zusammen mit Kollegen der Universitäten Bonn, Dortmund und Jülich an einem Konzept für einen Elektron-Nukleon Kollider. Diese Anlage soll polarisierte Elektronen von bis zu 3GeV mit polarisierten Protonen der Energie von 15GeV (und auch Deuteronen) zur Kollision bringen. Als Speicherring für die Protonen/Deuteronen soll dabei der Hochenergiespeicherring des FAIR Projektes (GSI in Darmstadt) dienen, der, ergänzt um einen Elektronenring, dann auch als Kollider eingesetzt werden kann. Zur Optimierung der Luminosität einer solchen Anlage, d.h. der Maximierung der Zahl der beobachtbaren Ereignisse, sind viele unterschiedliche Beschleunigerparameter und strahldynamische Effekte zu untersuchen. Zu nennen ist hier z.B. die Optimierung der Effizienz der Strahlkühlung des gebunchten Protonenstrahls mit hochenergetischen (8MeV und mehr) Elektronen, um einen möglichst kleinen Strahlquerschnitt zu erhalten und gleichzeitig die störenden Effekte der dann wachsenden Raumladung (des Strahls selbst und in der Wechselwirkung mit dem Elektronenstrahl) zu beherrschen.